Theodor Fontane und sein Riesengebirge

– Beitrag: Grażyna Prawda –

Die Idee, fünf Kurzgeschichten, die so genannten „schlesischen Geschichten” von Theodor Fontane (1819–1898), zu übersetzen, entstand aus Anlass des 200. Geburtstages dieses bedeutenden deutschen Schriftstellers, eines Vertreters des bürgerlichen Realismus. In seinem späten Leben, seiner schöpferischsten Zeit, verbrachte er regelmäßig die Sommer im Riesengebirge (Karkonosze). Es lohnt sich also, dem polnischen Leser diese weniger bekannte Seite seines Schaffens näher zu bringen und damit eine Lücke zu schließen, zumal es mit dem wachsenden Interesse in unserem Land für das Riesengebirge und seine Geschichte zusammenfällt.

Die Arbeit an den schlesischen Erzählungen erforderte die Sammlung von zusätzlichen Informationen und Kommentaren für ein polnisches Publikum, deren Quelle nur die historischen Texte oder die erhaltene Korrespondenz des Schriftstellers selbst sein konnten. Diese Verfolgung der Personen, Orte und Ereignisse in Fontanes Erzählungen im Kontakt mit der Gegenwart erwies sich als eine ebenso interessante Tätigkeit, wie die Übersetzung der Texte selbst. So entstanden Kommentare zu den Erzählungen, die in der Regel länger sind als die Erzählungen selbst und oft völlig neue Themen behandeln, die über den Inhalt hinausgehen, aber ein zusätzliches Licht auf die Region und das Leben ihrer früheren Bewohner werfen. Sie können daher auch für die heutigen Bewohner und alle Besucher der Region, für Menschen, die von der Geschichte des Riesengebirges fasziniert sind, für Regionalforscher und Reiseführer von Interesse sein.

Die schlesischen Geschichten sind Teil einer Sammlung von Kurzgeschichten, die der Autor unter dem Titel „Von vor und nach der Reise. Plaudereien und kleine Geschichten aus dem Jahr 1894” veröffentlicht hat. Sie sind Zeugnis einer besonderen Zeit, der Geburtsstunde des Massentourismus, des Planens und bewussten Erlebens von Urlaub. Auch Fontane erliegt gerne dieser Mode, wenn auch mit einem Augenzwinkern gegenüber dem neuen Urlaubskonzept, das „uns zum Besseren verändern” soll, ein Anstoß für diverse Versprechen zu einem gesünderen Leben sein soll. Er distanziert sich auch von der späten Sportbegeisterung seiner Zeitgenossen, denn das Rennen, so viel ich davon halte, es hilft auch nichts; wenn der Sand durch ist, ist er durch.

In der „Nacht auf der Koppe”, die in der berühmten Gebirgsbaude auf der Schneekoppe spielt, in die man sich in einer Sänfte tragen lassen konnte, um den Sonnenaufgang zu sehen und auch die wahrscheinlich ersten Postkarten der Welt zu verschicken, erzählt Fontane vom Dilemma zwischen dem menschlichen Recht, das Leben zu genießen, und dem Tod, der sich nebenan ereignet. Die Geschichte „Der letzte Laborant” befasst sich mit dem Phänomen der außerordentlichen Popularität und den unbestreitbaren Vorzügen der Riesengebirgskräuterkunde, ist aber vor allem eine Reise in die Welt der Mythen, des Glaubens und der Märchen, die in dieser Region stark verwurzelt sind und die der Autor bewundert. Dem entspricht „Gerettet!”, eine Geschichte über die Volksmedizin, die sich lange Zeit gegenüber der wissenschaftlichen Behandlung behauptete.

„Der alte Wilhelm” hingegen ist ein Beispiel für die für literarische Kurzformen typische Methode des Schriftstellers, nicht offensichtliche Assoziationen zu wecken, den Hauptgedanken fein zu vermitteln und das eine entscheidende Detail zu finden. Denn wie er selbst an anderer Stelle sagt: …und überhaupt, was heißt denn interessant? Auf das Kleine kommt es an; das ist das Charakteristische, das ist das Wahre – und zu mindesten langweilt es nicht. Und in dieser Geschichte entpuppt es sich als eine Kanne Milchkaffee zwischen den Hobelspänen, ein Versuch, die immer wiederkehrende Frage zu beantworten: „Wozu ist das alles gut?” Die letzte Geschichte, „Professor Lezius oder Wieder daheim”, die nur wenige Hinweise auf das Riesengebirge enthält und auf den ersten Blick der schwierigen Rückkehr zu den alltäglichen Pflichten nach einem Urlaub gewidmet ist, ist in Wirklichkeit eine tiefere Reflexion über die zivilisatorischen Veränderungen dieser Zeit. Und sie bringt eine Fülle von Zeugnissen und unerwarteten Hinweisen aus dem Berlin des ausgehenden Jahrhunderts. Eine davon führte mich zu der Episode des Ausschlusses von Stanislaw Przybyszewski von der Universität wegen „politischen Abenteurertums” durch den Rektor, der damals als bedeutender Wissenschaftler galt, Rudolf Virchow.

Darüber hinaus enthält der Band Kapitel aus zwei nicht ins Polnische übersetzten Büchern Fontanes, die ebenfalls im Riesengebirge spielen: „Quitt” und „Die Poggenpuhls”. Auch sie werden durch Kommentare und zusätzlich durch eine Zusammenfassung des Ganzen ergänzt. In der ersten Erzählung erörtert der Autor das moralische Dilemma, das der berüchtigte Fall der Erschießung eines Försters aus Wolfshau (Wilcza Poręba) durch einen Wilderer aufwirft. Die beschädigte Gedenkstätte, die an diesen Vorfall erinnert, befindet sich in einem schwer zugänglichen Gebiet am sogenannten Gehänge (Zbocze) innerhalb der Grenzen des Nationalparks Riesengebirge. Im Jahr 2021 wurde auf Initiative des Vereins zur Pflege Schlesischer Kunst und Kultur e.V. (VSK) und in Zusammenarbeit mit dem Nationalpark Riesengebirge (KPN) in Wilcza Poręba ein Stein und eine Informationstafel aufgestellt, die an die dokumentierten Fälle von Förstern erinnern, die einst Wilderern zum Opfer fielen. Im zweiten Roman hingegen haben wir es mit einem typischen Fall des Aufeinandertreffens zweier Welten zu tun, von denen die eine bereits weiß, dass sie gehen muss, diesen Moment aber hinauszögert, und die andere noch nicht genug Kraft hat, ihn aber bereits in sich spürt. Fontane prophezeite daher, unsere Enkel werden erst die wirkliche Schlacht zu schlagen haben. Dies ist eines der Grundthemen der Spätphase des Autors. Der Roman gibt auch Anlass zu einigen Bemerkungen über die Bezüge zu Polen und Polen in seinem Werk. Auch wenn es nicht viele davon gibt.

Ich habe posthume Memoiren über den Schriftsteller, auf die ich früher gestoßen bin, in das Buch aufgenommen. Bei der Arbeit an meinen Artikeln für die Zeitschrift „Karkonosze” und das Buch „Panteon Karkonoszy” (Hrsg. I. Łaborewicz, J. I. Zaprucka, 2022) über prominente Persönlichkeiten, die in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in Schreiberhau (Szklarska Poręba) lebten, wie z. B. Wilhelm Bölsche und Hanns Fechner, fand ich Texte, die dem verstorbenen Theodor Fontane gewidmet waren. Der dritte Text im letzten Teil des Buches ist einem Nachruf von Georg Friedlaender, ein Richter aus Schmiedeberg (Kowary) und Freund des Autors, dem er seine Kenntnis der meisten Geschichten und Legenden aus dem Riesengebirge verdankte. Er nutzte sie später als Grundlage für die Konstruktion der Handlungen seiner Geschichten und stimmte mit ihm die topografischen Details ab, auf deren Genauigkeit er pedantisch achtete. Aus diesem Grund können viele der damals beschriebenen Orte auch heute noch genau identifiziert werden. Anders verhielt es sich mit den Fakten, die sich in seiner Version oft änderten, die Figuren vereinten Merkmale mehrerer realer Personen und die Pointen waren manchmal erfunden. Einmal bemerkte der Sohn des verstorbenen Baudenwirts auf der Schneekoppe eine Unstimmigkeit mit mehreren Fakten in einer Geschichte, die sich wirklich zugetragen hatte. Fontane bat Friedlaender, ihn mit dem folgenden Argument zu beruhigen: Pohl, seien Sie kein Schaf; es macht Reklame und Sie kommen vielleicht täglich auf 100 Tassen mehr. Der letzte Text in diesem Abschnitt über die Erinnerungen ist ein Essay von Thomas Mann, obwohl er weder mit dem Riesengebirge verbunden war noch Fontane persönlich getroffen hat. Ich habe eine Ausnahme gemacht wegen der Verdienste dieses herausragenden Aufsatzes, der 1910 nach der posthumen Veröffentlichung von Fontanes Briefsammlung veröffentlicht wurde. Mann betrachtete diese Briefe als den Höhepunkt der Epistolographie und als beispielloses Zeugnis eines bahnbrechenden soziokulturellen Wandels. Generell gehörte er zu den großen Bewunderern der Prosa des Autors.

Die Veröffentlichungen dieser vier Autoren geben nicht nur einen Einblick in Fontanes Werk und literarische Leistungen, sie offenbaren uns auch bestimmte Züge seiner Persönlichkeit und die verschlungenen Wege seines Lebens. Darüber hinaus zeigen sie die Welt der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die literarischen Vorboten des Endes der Epoche sowohl in der Literatur als auch im deutschen Gesellschaftsleben.

Ich wünsche den Lesern, vor allem denjenigen, die versuchen, ihren heutigen Platz im Riesengebirge und in der Vergangenheit zu finden, eine unterhaltsame Lektüre.

Aus: Grażyna Prawda, „Noc na Śnieżce. Theodor Fontane i jego Karkonosze” , AD REM, Jelenia Góra 2024. Übersetzung: Grażyna Prawda.
Das Buch wurde von der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit gefördert.

→ Artikel lesen im GAL 73, S. 35 …


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