Dr. med. Hermann Brehmer und das älteste Lungensanatorium der Welt

– Beitrag: Jürgen Voigt –

Der Redakteur und Dokumentarfilmer Jürgen Voigt (1926-2014) reiste 1993 nach Görbersdorf/Sokołowsko, um nach dem Sanatorium von Dr. Brehmer zu fahnden. Er hat das beeindruckende Gebäude noch vor dem Brand 2005 gesehen. Seinen ungekürzten Bericht finden Sie hier: https://ewnor.de/jv/548_jv.php

Die Lungentuberkulose ist die Geißel des 19. Jahrhunderts gewesen und hat ungezählte Opfer gefordert bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhundert – heute gehört sie, trotz vorhandener Heilmittel, immer noch zu den großen Infektionskrankheiten der Welt. In Niederschlesien finden wir lebendige Zeugnisse für die Versuche früherer Ärzte, dieser Erkrankung Herr zu werden.

Einer von ihnen war Hermann Brehmer, geboren am 14. August 1826 in Kurtsch/Schlesien. Er promovierte 1853 in Berlin mit der Arbeit „De legibus ab initium atque progressum tuberculosis pulmonum spectantibus”, und glaubte fest daran (gegen den Strom der Zeit), Tuberkulose sei heilbar, heilbar mit Hilfe einer geeigneten Diät und dem Aufenthalt in einem Höhenklima, an „immunen” Orten, die frei von Schwindsucht sind und gegen Winde von allen Seiten geschützt. Seine „klimatisch-hygienisch-diätetische Behandlungsmethode” war revolutionär und behielt ihre Gültigkeit auch nach der Entdeckung des spezifischen Erregers. Das Problem des jungen Arztes war aber die hohe Politik in Deutschland. Brehmer war Demokrat und das schätzten die Staatsorgane damals gar nicht. Sein Buch von 1857 „Die chronische Lungenschwindsucht, ihre Ursache und ihre Heilung” wurde von der medizinischen Presse zerrissen. Brehmer dazu: Nur der blinde Autoritätsmensch kann es für verwerflich halten, dass ein einfacher Arzt etwas Richtiges lehren sollte, das ein Universitäts-Professor noch nicht vorher gelehrt hat.

Brehmer prüfte sorgfältig die klimatischen Bedingungen in den Hochtälern des Riesengebirges und entschied sich für Görbersdorf im Waldenburger Gebirge, 561 m ü.d.M. Ob es Zufall war – er hatte eine adelige Dame geehelicht, Amalie von Colomb aus Berlin. Deren Schwester Marie betrieb in Görbersdorf eine Wasserheilanstalt nach dem Vorbild des Vincenz Prießnitz (1799–1851), Begründer der Hydrotherapie. Marie ging aber pleite und wanderte in den Schuldturm, der junge Brehmer übernahm das marode Unternehmen. Die ersten Lungenpatienten lagen wenig bequem in einem kleinen Bauernhof. Geld fehlte. Aber die Sache sprach sich herum, Schwindsüchtige aus allen Gegenden eilten herbei. Brehmer wollte bauen, für die wohlhabenden Patienten, man ließ ihn lange nicht, denn er war ja ein Demokrat! Das war für die braven Königstreuen ein Linker. Endlich die Baugenehmigung.

Der Architekt Edwin Oppler (1831–1880) hatte als Vertreter der „Neugotik” schon das Schloss Halberg bei Saarbrücken und verschiedene Synagogen gebaut. Für Brehmer errichtete er 1863 das sog. Alte Kurhaus, 1871 den Anbau eines Wintergartens, 1875 die Wirtschaftsgebäude, 1878 das „Neue Kurhaus” – Höhepunkt der Görbersdorfer Anstalt. Einige pompöse Villen gehörten dazu.

An nichts hat der Architekt es 1878 fehlen lassen. Gemalte Decken, gotische Tapeten, Stilmöbel in den 70 Einzel- und Doppelzimmern, mollig warm auch im strengen Frost durch eine moderne Luftheizung. Teeküche und Badezimmer auf jeder Etage. Die Toiletten nach dem Heidelberger Tönnchensystem entleert. Die Sputa wurden vergraben. Jemand öffnet uns ein Patientenzimmer. Die hölzernen Dielen sind durchgefault, die Scheiben kaputt unter der hübschen Rosette, der Giebel noch auszumachen. Schicksale, die kein Buch verzeichnet, denn die Anstaltsleitung pflegte „moribunde” Patienten rechtzeitig nach Hause zu schicken, damit sie nicht in Görbersdorf starben und begraben werden mussten.

Die Brehmer’sche Anstalt erlangte bald Weltruhm. Die Patienten gehörten dem reichen Bürgertum und Adelskreisen an. Sie kamen aus Deutschland, aus Schweden, Finnland, Russland und Frankreich. Ein Biograph: Seine Patienten hingen mit einer schwärmerischen Verehrung und festen Zuversicht an ihm.

Ein Wandbild im Sanatorium rühmte Brehmers Taten, zeigte alle seine Sanatoriumsgebäude in schöner Perspektive und darüber in gotischer Schrift fein säuberlich Brehmers Wahlspruch:

Nur der Arzt kann segensreich wirken,
der mit den Naturwissenschaften vertraut
und im mathematischen Denken geübt ist.

Vor 120 Jahren war die Berufung auf Naturwissenschaften in der Medizin nicht selbstverständlich, aber typisch für den Sonderling.
Brehmer bot damals seinen Schwindsüchtigen mehr als gutes Essen und die Hoffnung auf Heilung. Die Gehfähigen ließ er weite Spaziergänge unternehmen nach genauem Plan und Kunstwerke betrachten, denn das Schöne, das Ästhetische, so meinte er, werde den Heilungsprozess unterstützen. Alkohol, pur und mit Milch gequirlt, war ihm ein Heilmittel, das den Stoffwechsel der Patienten anregt und dem Nachtschweiß vorbeugt.

Den Siegeszug seiner Anstalten, die große Heilstättenbewegung, hat Dr. Brehmer nicht mehr erlebt. Er starb am 23. Dezember 1889. Aber ein wenig vom Schrecken dieser furchtbaren Seuche, der Schwindsucht oder Phthisis, hat er doch genommen – der Außenseiter und Sonderling.

→ Artikel lesen im GAL 73, S. 39 …


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