Ein Ort für Romane

– Beitrag: Jürgen Karwelat –

Görbersdorf, das seit 1945 Sokołowsko heißt, war eine sehr berühmte Lungenheilanstalt und das „Davos” Schlesiens. In einem Verzeichnis von Sanatorien, 1899 in Berlin erschienen, heißt es: „Die Heilanstalt wurde 1854 von Dr. Brehmer gegründet. Sie war das erste Sanatorium überhaupt, das für Lungenkranke errichtet wurde, und von welchem die bereits damals von Dr. Brehmer aufgestellte und jetzt allgemein angenommene Heilmethode der Lungenschwindsucht ausging.
Die Lage der Dr. Brehmer’schen Heilanstalten ist eine durchaus geschützte, 630 Meter über der Ostsee, in einem engen, vielfach gewundenen Thale des Waldenburger Kreises in Schlesien, das fast allseitig von 1000 Meter hohen, dicht bewaldeten Bergen umgeben ist”.
1874 war der Warschauer Professor Alfred Sokołowski (1849–1924) Patient in Görbersdorf. Nach seiner Genesung wurde er der Assistent von Dr. Hermann Brehmer (1826–1889). Sokołowski gründete 1908 in Polen eine Gesellschaft zur Bekämpfung von Tuberkulose. Deshalb trägt Görbersdorf seit 1945 seinen Namen.
Nach dem 2. Weltkrieg gab es hier zwar eine Klinik für Atemwegserkrankungen, die repräsentativen Gebäude der Kurklinik verfielen aber zusehends. Seit einigen Jahren haben sich nun zahlreiche Künstler diesen Ort erwählt. Die KunstStiftung In Situ hat 2007 das Sanatoriumsgelände gekauft und will die historischen Gebäude erhalten bzw. wieder aufbauen. Im Sommer finden hier Kunstfestivals statt. Bereits seit mehreren Jahren lockt das Kieślowski-Filmfestival Besucher an. Der berühmte polnische Filmregisseur Krzysztof Kieślowski (1941–1996) hat hier in seiner Jugend gegenüber dem Lichtspieltheater „Zdrowie” (dt. Gesundheit) gewohnt.
Zwei der bekanntesten polnischen Schriftstellerinnen haben den genius loci des Ortes in Romanen verewigt: 2022 schuf Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk mit „Empusion” einen „feministisch-ökologischen Schauerroman, eine hintersinnige Replik auf Thomas Manns Zauberberg” (Klappentext). Die Erlebnisse des jungen tuberkolosekranken Mieczysław Wojnicz spielen kurz vor Ausbruch des 1. Weltkrieges. „In die anfangs realistisch erzählte Geschichte mischen sich immer stärker die für Tokarczuk typischen magischen und mythischen Elemente als Stimme der Weiblichkeit, die gegen die herrschende Gesellschaftsordnung aufbegehrt” (Jan Ehlert im NDR).
Schon 2020 erschien in Polen der Roman „Gorzko, gorzko” „unserer” Joanna Bator – 2023 wurde er von Lisa Palmes übersetzt. Jürgen Karwelat hat ihn gelesen:

Die Selbstverständlichkeit des Schrecklichen: „Bitternis“ – ein großer Familienroman

Joanna Bator, Jahrgang 1968, hat ein mächtiges Werk geschrieben, nicht nur, was die Seitenzahl betrifft. Es ist der vierte ins Deutsche übersetzte Roman der aus Waldenburg/Wałbrzych stammenden Autorin.
Auf 829 Seiten wird das Schicksal von vier Frauen aus vier Generationen erzählt. Die Geschichte spielt, wie auch ihr 2011 veröffentlichte Roman „Sandberg”, in und um die alte Bergbaustadt Waldenburg, 80 Kilometer südlich von Breslau gelegen. Der Roman steigt tief in die Abgründe und das Alltagsleben deutsch-polnischer Schicksale. Die Jüngste in der Reihe der Frauen, Kalina Serce, kauft im heutigen Sokołowsko, dem früheren Görbersdorf, ein herunter gekommenes Haus, das zu deutschen Zeiten die „Pension Glück” beherbergt hat. Hierhin ist Berta Koch, ihre Urgroßmutter, in den 1930er Jahren als junges Mädchen häufig mit einem Korb voller Wurstwaren für die Ärzte und Schwindsüchtigen des Sanatoriums gekommen.

→ Weiterlesen im GAL 72, S. 54 …


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