– Beitrag: Anka Steffen –
Schlesische Leinenstoffe wurden spätestens seit der Mitte des 17. Jahrhunderts von allen europäischen Kolonialmächten en masse an der westafrikanischen Küste, in der karibischen Inselwelt sowie auf dem süd- als auch nordamerikanischen Festland gehandelt. Schlesische Kaufleute nutzten die Hafenstädte jener Seehandelsnationen als Drehscheiben für ihre Geschäftsaktivitäten und traten selbstbewusst auf dem internationalen Handelsparkett auf. Die Handelsstädte dieser sog. „Merkurpriesterschaft” – Hirschberg, Landeshut, Greiffenberg, Schmiedeberg und Waldenburg – waren von Kingston auf Jamaika bis ins preußische Königsberg bekannt.
2016 berichtete ich im Heft Nr. 57 über die Reklamationspraxis schlesischer Leinwandkaufleute, deren leinene Waren zu Unrecht von englischen Kaperern im Ärmelkanal aufgebracht worden waren. Sie mussten sich jedes Mal bemühen, die Herausgabe ihres Eigentums vor dem High Court of Admiralty in London (Appellationsgericht) zu erstreiten. Mittlerweile ist meine deutlich komplexere Dissertation „Die Priesterschaft des heiligen Merkur. Schlesische Wirtschaft im globalen Kontext” erfolgreich abgeschlossen. Grundlage sind Quellen in deutscher, englischer und holländischer Sprache. Das Material wurde in über dreißig Forschungs- und Dokumentationseinrichtungen verschiedener Länder zusammengetragen.
Die Studie umreißt fünf Themenfelder:
Erstens, schlesische Leinwand war kein uniform-einfacher Stoff, der von ungelernten Arbeitskräften in der Wintersaison hergestellt wurde und ausschließlich der notdürftigen Bekleidung Versklavter auf den Plantagen der „Neuen Welt” diente. Vielmehr waren schlesische Leinwandsorten kundenorientiert angepasst. Das breite Sortiment deckte unterschiedliche Absatzmärkte ab. Wenn von schlesischer Leinwand im Singular die Rede ist, ist also immer eine Gewebevielfalt gemeint. Vorweggenommen sei, dass freie Afrikanerinnen und Afrikaner im vorkolonialen Westafrika ausschließlich Stoffe guter Qualität nachfragten, während in den kolonialen Amerikas auch schwächere Qualitäten verkauft werden konnten. Abbildung 1 zeigt ein Musterstück schlesischer Leinwand, die von den Briten als „Sletias”, von den Niederländern als „Platilles” international gehandelt wurde. Da sich materielle Zeugnisse schlesischer Gewebe kaum erhalten haben, hat dieses Fundstück im niederländischen Nationalarchiv einen außergewöhnlichen dokumentarischen Wert.
Schlesische Leinwand um 1700 in Westafrika
Zurück zu den Absatzmärkten schlesischer Leinwand. Die Ladungslisten der Royal African Company of England belegen eindeutig, dass die Briten auf ihren Handelsschiffen
zwischen 1663 und 1723 große Mengen von ebenmäßig gewebten und gut gebleichten weißen „Sletias” mitführten. Unveredelte, kratzig-raue Leinwand ließ sich nicht einfach gegen Elfenbein, Goldstaub oder Versklavte eintauschen. Entgegen der noch immer verbreiteten Vorstellung mussten sich die Europäer in der frühen Neuzeit nämlich den Konsumwünschen ihrer afrikanischen Handelspartner fügen, wollten sie ihre Tauschgeschäfte im Warenund Menschenhandel zu einem erfolgreichen Abschluss bringen. Billige Perlen und schlechten Schnaps ließen sich afrikanische Händler nicht aufschwatzen. Interessant ist, dass schlesische Textilien konkurrenzlos im Leinwandsortiment firmierten, sie also einen Nerv afrikanischer Konsumentinnen und Konsumenten getroffen haben mussten. Leinenstoffe aus Polen, Hessen oder Westfalen wurden nur in verschwindend geringen Stückzahlen mitgeführt.
→ Weiterlesen im GAL 72, S. 45 …