Das Riesengebirge nach der Ära des Mythos‘

– Beitrag: Henryk Waniek, Übersetzung Bernhard Hartmann –

Im ersten Jahr des dritten Jahrtausends, ich glaube im September oder Anfang Oktober, fand in Hirschberg/Jelenia Góra ein kleines Symposium oder vielleicht auch nur Podiumsgespräch statt, zu dem man mich eingeladen hatte. Der Titel der vorliegenden Notizen lässt vermuten, dass der Mythos des Riesengebirges das Thema war. Im Vorfeld der Veranstaltung notierte ich mir, was ich sagen wollte, und fügte eventuell ein paar abschweifende Gedanken hinzu. Ich erinnere mich nicht, wie es genau war. Von der ganzen Konferenz ist mir nur noch in Erinnerung, dass – mit einiger Verspätung – Andrzej Więckowski in knallbunter Rennradkluft erschien. Abgesehen davon habe ich nur noch diese Notizen, die inzwischen nicht mehr ganz aktuell sind, und auch die in ihnen beschriebene Wirklichkeit hat sich ein wenig verändert. Zu guter Letzt bin auch ich älter geworden, doch die Eindrücke von damals sind wohl unverändert geblieben.

Als ich gestern Nachmittag bei schönem Wetter in dieser Welt ankam, fuhr ich mit der Bahn von Hirschberg/Jelenia Góra nach Schreiberhau/Szklarska Poręba. Ich kann nicht sagen, zum wievielten Mal in meinem Leben. Diese Fahrt ist immer eine Begegnung mit dem schönsten Panorama, das ich kenne. Besonders hinter Petersdorf/Piechowice, wenn der Zug gleichsam wie ein Hund den eigenen Schwanz fangen will. Als hätten die Erbauer dieser Bahnstrecke die Landschaft von mindestens zwei Seiten zeigen wollen, Vorder- und Rückseite. Ich sauge sie jedes Mal aufs Neue bezaubert ein. Manchmal denke ich, wie gut es ist, dass ich woanders lebe und diese Aussicht nicht jeden Tag habe. Denn sie könnte mir – wie vielen hier Ansässigen – zur Gewohnheit werden. So ist sie für mich nicht Alltagsprosa, sondern feierliche Wallfahrt.

Ich schaute aus dem Waggonfenster und dachte darüber nach, was ich Ihnen über den Mythos des Riesengebirges sagen könnte. Schließlich ist ja dieses Riesengebirge, dessen polnischen Namen, Karkonosze, wir von den Tschechen übernommen haben, nur eines von vielen mythischen Gegenden in den Sudeten. Ein wichtiges. Womöglich sogar das wichtigste? Gewisse Befürchtungen, wenn nicht Widerwillen, weckte in mir nur der Gedanke, dass der Mythos in diesem Fall nur eine Verpackung sein könnte, der Versuch, die Alltagswirklichkeit in ein unverdientes Gewand zu kleiden. Und dass wieder über dasselbe gesprochen würde wie bei diesen Gelegenheiten üblich, über bequeme Banalitäten wie die Schönheit der belebten und unbelebten Natur, das je nach Jahreszeit oder Wetterkapriolen wandelbare Erscheinungsbild der Landschaft, über ihre Legende, ihre Geschichte, ihre Wege. Über verlorene oder gerettete Denkmäler. Über Verdrängtes oder Wiedererinnertes. Und das meistgebrauchte Wort wäre das Adjektiv „magisch”. So dachte ich, während ich aus dem Fenster schaute.

Der Zug schleppte sich gerade zwischen Warmbrunn/Cieplice und Hermsdorf/Sobieszów dahin; von Jahr zu Jahr wird er langsamer, verwahrloster, unpünktlicher – aus welchem Grund nur? Mit jedem neuen Fahrplan gibt es weniger Verbindungen, und es wirkt – signum temporis – wie ein langsamer Niedergang. Der gar nicht mal so alte PKP-Fahrplan von vor knapp vierzig Jahren, der im Vergleich zu den früheren schon ein Rückschritt war, verband diesen – in meinen Augen – schönsten Ort des Riesengebirges noch gut mit dem Rest der Welt. Heute erfüllen Privatautos diese Funktion, und für die Einwohner von Schreiberhau/Szklarska Poręba ist ein Leben ohne Auto eigentlich unvorstellbar. Der Busverkehr ist eher symbolisch. Und so organisiert, dass er Viertel und bewohnte Stadtteile umgeht. Vielleicht bessert sich das in Zukunft, aber bislang ist kein Nahverkehrskonzept in Sicht, das die Interessen der Bevölkerung mit einbezöge. Oder die mythischen Orte der Umgebung, die für Touristen zu Wanderzielen werden könnten. Das alles ist gleichsam in weite Ferne gerückt, statt uns näherzukommen. Oder bin ich einfach nur alt und griesgrämig?

Der Zug, wie schon gesagt, fuhr langsam, was Zeit zum Nachdenken ließ. Und so dachte ich mir zwischen Warmbrunn/Cieplice und Hermsdorf/Sobieszów, dass ich hier heute nicht über die Dinge sprechen würde, die ohnehin allen bekannt sind, sondern stattdessen etwas Lebendigeres vorschlagen würde. Dass ich Sie – sofern das Wetter so gut wäre wie gestern – einladen würde zu einem Spaziergang in den Teil von Warmbrunn/Cieplice, in dem die enge Bebauung sich lichtet und sich hinter dem Norwegischen Park der Blick auf die nackte Landschaft mit der Wand des Riesengebirges im Hintergrund öffnet. Auf die weiten Fluren, die wie durch ein Wunder seit jener Zeit erhalten geblieben sind, in der Caspar David Friedrich, der führende Maler der deutschen Romantik, ein kleines Aquarell malte – Blick auf den Schmiedeberger Kamm –, in das er einen einzelnen Betrachter setzte, der sich auf einen Weidezaun stützt.

Dort wäre ich gern mit Ihnen hingegangen, sagen wir um vier Uhr nachmittags, an einem heiteren Tag. Und ich hätte mir gewünscht, dass wir ohne viel Reden und ohne künstliche Einführung in erhabene Stimmungen das alles so betrachten, wie man Friedrichs Werke betrachtet – in stummer Bezauberung.

Und das wäre der umfassendste und anschaulichste Vortrag zum Thema „Der Mythos des Riesengebirges” gewesen. Und in dem Fall, von dem ich spreche, wäre der Mythos durch ein künstlerisches Werk beglaubigt worden, eines von vielen, auch literarischen und musikalischen, die sich auf eben diesen malerischen Teil der schlesischen Welt beziehen. Mithin ein reines Bild der Natur, in keiner Weise eingeschränkt durch Reiseführer, Fahrpläne, vorgegebene Wanderwege oder andere Maßgaben.

Ich habe schon gesagt, dass dieser Titel – Der Mythos des Riesengebirges – mich in Bedrängnis bringt. Wenn ich ihn mir hier auch selbst auferlegt habe, so klingt er für mich doch nach einer Aufforderung zu kleineren oder größeren Lügen, die unsere Liebesbeziehung zu diesem Flecken Erde bekräftigen sollen, die sich als Liebe voller Löcher manifestiert. Um das festzustellen, genügt ein genauerer Blick in seine heruntergekommenen und verfallenen Ecken, derweil er indessen wahre und große Liebe verdient. Ein ohnmächtiger Blick, bei dem wir nichts tun können, als die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen.

Es ist also nachvollziehbar, wenn es mich reizt, von den Leerstellen zu sprechen, die von alten Kulturschätzen wie dem Renaissance-Herrenhaus in Matzdorf/Maciejowiec geblieben sind, von den Leerstellen der Mythen, die vertrieben und von unbeholfenen provisorischen, schon im Entstehen wieder verendenden Imitationen verdrängt wurden. Man könnte sagen, sie existieren schon als Mythos. Auf alten Fotografien oder Beschreibungen. Auf Bildern, die man sich leicht vorstellen kann. Sie sind zum Mythos geworden, ohne es womöglich je gewollt zu haben. Einem Mythos, der langsam die Wirklichkeit ersetzt, die uns unmittelbar umgibt.

Jedenfalls freut es mich nicht, wenn ich mich gezwungen fühle, zu den ewigen Schreckgespenstern zurückzukehren – zu Rübezahl, den wir im Namen eines falschen Kompromisses den Berggeist nennen und dem wir endlich seinen ursprünglichen Namen zurückgeben sollten, zu Flins, der einst die Sagenlandschaft des Isergebirges bereicherte; zu den zahlreichen lokalen Spukgestalten und Dämonen, ohne die früher keines der hiesigen Dörfer ausgekommen wäre. Zu den „Laboranten”, die im Kampf mit der preußischen Bürokratie unterlagen. Und auch nicht unbedingt zu den hypothetischen Orten alter heidnischer Kulte, zur Geschichte der hiesigen Stämme und lokalen Traditionen. Zu den Orten, Ortschaften und Gebrauchsobjekten, etwa den Berghütten, an deren einstige Existenz heute nur noch historische Landkarten erinnern. Denn das sind eher schmerzliche Vorstellungen, und es fällt schwer, die Scham zu unterdrücken. Denn von all dem war schon so oft die Rede. Und wird es sicher noch häufiger sein, selbst wenn es letztlich zu nichts führt.

Ich würde also versuchen, nicht zu erzählen, wie Rübezahl einem starrsinnigen Kräutersammler eine Lehre erteilt, nicht von den Menschenopfern, die angeblich in der Umgebung des Dorfs Steine einer heidnischen Gottheit dargebracht wurden. Denn wann immer ich diese und andere Themen aufgreife, habe ich das unangenehme Gefühl, fast ausschließlich von deutschen Quellen und den akribischen Arbeiten heute vergessener Ethnologen zu zehren. Die – leider nicht zahlreichen – polnischen Quellen haben das Beste noch vor sich. Doch es besteht die leise Hoffnung, dass diese Aufgabe eines Tages auf eine Weise erledigt werden wird, die uns womöglich mit Stolz erfüllt und für die wir uns nirgends und vor niemandem schämen müssen. Sicher, die Wahrheit ist nicht so einfach, denn es gibt ja immer auch Ausnahmen. Es gab schließlich auch manche in diese Welt verliebte Polen. Es gibt sie heute noch. Und die nächsten wachsen heran.

Ich belasse es somit bei dem, was ich gestern aus dem Fenster des Bummelzugs als Anregung für das heutige Treffen gesehen habe. Doch leider müssen wir die Idee eines kontemplativen Spaziergangs von Warmbrunn/Cieplice ins Grüne Richtung Hermsdorf/Sobieszów auf eine andere, weniger konferenzartige Gelegenheit verschieben. Heute werden wir in diesem Raum sitzen und über mehr oder weniger dasselbe diskutieren wie immer.

→ Beitrag lesen im GAL Nr. 74, S. 24 …


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