Mein Kindheitsmärchen

Beitrag: Małgorzata Lutowska

Seit wann kann ich denken? Was ist meine Urerinnerung? Das Haus. Nein, eigentlich nicht. Das Haus befindet sich hinter mir. Das erste Bild ist der Garten. In dessen Mitte ein Pfad. Lang, gerade. Ich schreite an grünen Beeten entlang. Es ist warm und still. Ich bin ganz allein, fühle mich aber sicher, gehöre hier hin.
Das ist meine kleine Welt. Wie alt war ich an diesem Tag? Drei oder vier. Ich gehe allein, ohne Begleitung der Erwachsenen und ich bin stolz. MEIN Garten und MEIN Haus.
Der nächste Schnappschuss: Jemand reißt mich aus dem Schlaf eines Wintermorgens. Eigentlich ist es noch Nacht. Halbwach trinke ich heiße Milch aus einem mir gereichten Becher, beiße in die in meine Hand geschobene Brotscheibe. Das ist meine Mutter. Sie drängt mich. Bevor sie ihre Arbeit im Büro beginnt, müssen wir meinen Kindergarten erreichen.
Ich habe ein schwarzes Kaninchenpelzchen an. Während meine Mutter die Tür schließt, strecke ich meinen Arm aus. In der hellen Beleuchtung der am Eingang hängenden Lampe entdecke ich das Wunder einer einzelnen Schneeflocke. Ein fein konstruiertes, in himmlischem Schimmer glänzendes Stäubchen, lautlos torkelnd fällt es auf den Samt meiner Winterkleidung.
Meine Mutter nimmt mich fest bei der Hand. „Jetzt werden wir keine Schneeflocken bewundern“, sagt sie, „aber jede ist anders, unwiederholbar, einzig. Und es gibt Tausende, Millionen davon!“ und zeigt auf Berge von Schnee. Wir beschleunigen die Schritte, ich laufe von ihrer Hand gezogen. Uns begleiten Straßenlampen. Es ist frostig, man hört, wie der Schnee unter den Sohlen knirscht. Ich schaue mich nach der funkelnden Schneedecke um. Sie leuchten im Lichtkreis auf und erlöschen dahinter. Ich laufe fröhlich vorwärts, weil ich weiß, dass ich an der nächsten Lampe das Wunder neu erlebe – das Flimmern frostiger Diamanten.
Der tägliche Weg wird einige Jahre lang wiederholt und ist im Gedächtnis verankert. Und obwohl er immer gleich verläuft, wird er durch Jahreszeiten oder Wetter verändert. Zum Beispiel, den Zacken entlang gehend, erlebe ich seine unterschiedlichen Gesichter – manchmal ist der Fluss flüsternd und so durchsichtig, dass man von seinen bunten, glänzenden Steinen angelockt wird. Ein andermal, besonders nach dem Regen, ist er aufgewühlt und fast schwarz, sehr böse. Und beim nächsten Mal…
Hinter dem Fluss öffnet sich ein anderer Blick. Die evangelische Kirche. Wir betreten den alten deutschen Friedhof. Ich nehme die Mutterhand fester. Der Mauer entlang ziehen sich verwitterte Grabplatten. Viele haben Stelen mit Halbsäulen, sind mit geriffelten Schriftschnörkeln bedeckt. An anderen sieht man in verschiedenen Posen erstarrte Putten oder Girlanden. Ich habe Angst, sie anzusehen – viele Platten, Deckel mit verrosteten, runden Griffen sind beunruhigend eingefallen… darunter öffnet sich ein unterirdisches Reich…
So erreichen wir den großen Platz. Auf seiner ganzen Länge zieht sich die Fassade eines prächtigen Gebäudes, allgemein hier „zamek” – das Schloss – genannt. An dieser Mauer entlang, unter riesigen Wappen erreichen wir endlich den Park. Wir gehen an der Konzertmuschel vorbei, dann am Ballhaus mit seiner Terrasse und den hohen, oben abgerundeten Fenstern. In der Ferne tauchen das Theater und der mit Säulen geschmückte Eingang zur alten Galerie auf. Von hier aus reicht es, nur den Weg neben dem Springbrunnen zu überqueren und schon ist man an Ort und Stelle – in meinem Kindergarten.
Drei Jahre lang habe ich in ihm alle Ecken und Kammern erforscht. Vom Untergeschoss, wo die Garderobe eingerichtet wurde, bis zum Dachboden, wo die ungeliebte Mittagsruhe stattfand. Am schönsten aber war der geräumige, elliptische Saal im Parterre. Seine runde Wand hinter dem Klavier bildete eine Nische, in der man sich verstecken konnte. Eine verglaste Tür führte nach draußen.
Der Ort für unsere Spiele und Spaziergänge waren der Kur- und der Norweski-Park, die Wege unter alten Bäumen. Eichhörnchen huschten, wir sammelten im Herbst bunte Blätter und Kastanien. Das alltägliche Leben eines Kindes, das den Kindergarten besucht.
Eines Tages ging meine Mutter mit mir zur katholischen Kirche. Auch an dieser Mauer bemerkte ich viele Grabplatten. Darauf waren stolze Ritter mit Rüstung und Schwertern, Damen in schönen Kleidern, Hauben, mit Handschuhen oder Büchern in Händen. Ich habe mir alles genau angeschaut, ohne Staunen. Letztendlich kannte ich solche Gestalten aus den Märchen und Sagen über Prinzessinnen, Herzögen und Königen. An einer Stelle gab es ein Feld mit einem langen Text bedeckt.
„Mama, bitte, lies mir vor, was hier geschrieben steht.” Ich wandte mich an sie, als ob das die einfachste Aufgabe wäre, aber sie zuckte nur ratlos die Schultern.
„Ich kann nicht.”
„Wieso?” staunte ich, „Mama, du kannst doch lesen!”
„Aber das steht hier nicht auf Polnisch, sondern auf Deutsch. Du wirst es nicht verstehen. Und ich auch nicht.”
„Warum auf Deutsch?” konnte ich nicht begreifen.
„Hier haben früher Deutsche gelebt. Das ist aus alten Zeiten geblieben. Wir sind hier nachher gekommen. Du bist schon hier zur Welt gekommen. Ich nicht.”
„Und Papa? Und Oma und Opa?“ forschte ich weiter.
„Auch nicht. Du bist die erste in unserer Familie, die hier geboren wurde. Wir alle stammen aus einem weiten Land, fern von hier.”
Ich fühlte mich seltsam. Etwas unterschied mich von meinen Nächsten. Mein Geburtsort.
Ich war sechs. Was konnte ich von der Geschichte, Politik, von dieser ganzen komplizierten Welt der Erwachsenen verstehen? Hier war mein Haus, mein Pfad unter den Beeten, mein Kindergarten. Ich bin von hier. Immer war ich von hier!
Irgendwann werde ich erfahren, was die Steine in meiner Welt erzählen.
Ich werde dieses Geheimnis entdecken.

→ Weiterlesen im GAL 69, S. 42 …


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